2016 – Pneuma-tacs

2016 – Pneuma-tacs

Renate Hampke – Pneuma-tacs Renate Hampkes bereits einige Jahre künstlerische Beschäftigung mit ausrangierten Fahrradschläuchen erfährt in dieser nunmehr zweiten Einzelausstellung bei Semjon Contemporary einen Höhepunkt. Nur noch vereinzelt wird ein weiteres...

Renate Hampke – addendum

10.12.2022 – 21.1.2023 (verlängert)

3d visit

Text (English)

Portfolio

Mit Humor und großem Selbstbewusstsein hat die Künstlerin – nunmehr 87 Jahre alt – in den letzten Monaten an zwei Werkgruppen gearbeitet, die in addendum zusammengefügt sind.

Ihre raumgreifende Installation Konzert für Rrose Sélavy verdichtet ihre Erfahrungen der letzten Jahre, in denen sie mehrere ortsspezifische Installationen* realisiert hat.
Seit längerer Zeit beschäftigt sich die Künstlerin mit Marcel Duchamp und erweist ihm mit ihrer Installation Konzert für Rrose Sélavy die Ehre.
Die Formation ihrer Stelenskulpturen – als eine Gruppe arrangiert – könnte auf ein Orchester verweisen, und die doppelt so hohe, vereinzelt der Gruppe gegenübergestellt, könnte den Dirigenten mimen. Der auf die Wand geschriebene Installationstitel gibt dem in der modernen Kunstgeschichte nicht bewanderten Betrachter Rätsel auf. Die spannungsvoll als Kontrapunkt zu der Figurengruppe an der Wand befestigte Fahrradfelge mit Speichen könnte des Rätsels Lösung sein. Das berühmte Readymade Bicycle Wheel von Duchamp ist den meisten geläufig, auch wenn die Gabel und der Hocker fehlen. Die Wandskulptur hingegen formuliert augenzwinkernd das Zitat dazu.

Die Präsenz der Figurengruppe im Ausstellungsraum ist einmalig. Auch wenn Renate Hampke in ihrer Ausstellung Pneuma-Tacs von 2016 bereits mit Stelenskulpturen den Raum rhythmisch und geometrisch streng durchmessen hat, bekommen die neuen, als Gruppe lose zueinander arrangiert, hier eine inhaltliche Bedeutung zugeschrieben. Auf jeder Stele ruht ein quergelagertes, leicht überlappendes Fahrradschlauchbündel, martialisch zusammengebunden mit 4 bis 5 großen schwarzen Kabelbindern, die die Luft aus den Schläuchen förmlich herausgepresst haben. Sie dominieren mit ihren langen freischwingenden Enden in markant-synchronen Bewegungen mit- und gegeneinander den oberen (Luft-)Raum. Die einzelne Stelenskulptur bekommt dadurch eine Leichtigkeit, da die optische Schwere des hölzernen Kubus auflöst wird, übrigens verstärkt durch die auf- und abfallenden aufgemalten schwarzen Winkelflächen am Bodenrand, die eine ‚atonale Rhythmik‘ der Stelen untereinander suggerieren und befeuern. In ihrer Formation zueinander könnten sie die Bewegungen im Orchesterkörper übersetzen, die, wenn man ein Konzert mit großem Orchester beobachtet, in Wogen zu- und gegeneinander die Instrumente synchron bewegen. Die Violinen formulieren eine leicht gekippte, bewegliche horizontale Fläche, die Bögen durchschneiden eher vertikal aufschneidend den Raum.

Die Dynamik des Orchesterkörpers wird kontrastiert durch den in sich ruhenden Dirigenten, gekleidet – so könnte man meinen, durch die Bemalung des aufgesetzten schwarzen Sockels – in einen Frack. Seine vertikale und steife Silhouette wird belebt durch drei nebeneinander hängende Fahrradschläuche, die am ‚Kopfende‘ mit ihren seriell arrangierten, nach oben zeigenden Ventilen, des Maestros vertikale Bewegung abschließen und damit pointieren. Er könnte auch gerade mit seinem Dirigierstab von oben herab die Bewegung nach unten durchführen, um dem Orchester ein adagio zu vermitteln.
Die Faszination, die diese Installation beim Verfasser dieses Textes ausübt, liegt in der Vielgestaltigkeit des Werks und den mannigfaltigen Konnotationen, die es auszulösen vermag, wobei die Künstlerin sich einer definierenden Eindeutigkeit verweigert. Große Kunst ist die, die berührt und offen ist für freie Interpretationen, einem geistigen Gefäß gleich.

Die zweite Werkgruppe, ihre Holzzeichnungen – in dieser Ausstellung mit Fingerwerk als Werkgruppennamen betitelt –, gesellt sie zu der Installation auf die Wand, bis auf einen Ausreißer, der auf Bodenniveau gegen die Wand gelehnt ist. Ein Missverständnis zwischen der Künstlerin und ihrem Galeristen, das aber einen poetischen und frechen Impuls zur Ausstellung beisteuert.
Mit ihren geschwärzten Fingerkuppen füllt Renate Hampke in strenger und serieller Manier die Holzoberfläche der Birkensperrholztafeln. Mal dominant schwarz, mal mehr ‚hingehaucht‘ reiht sich ein Fingerbeerenabdruck an den anderen und bildet in klassischer Lesemanier aufeinander folgende Reihen, und erzeugt damit ein strenges Bild, das durch die organische Rundung des Farbauftrags (zumeist ist es Kohle) dennoch eine Individualisierung erfährt, zumal dadurch eine kühle und sterile, geometrische präzise Aneinanderreihung bewusst vermieden wird. Die einzelnen Werke schwingen.
Innerhalb der Serie der Fingerwerke gibt es eine Gruppe, die plötzlich einen imaginären Raum in die Tiefe öffnet, sind doch einzelne ihrer Fingerkuppenabreibungen derart gesetzt, dass sie wie abstrakte Figuren im leeren Raum wirken, und ihn dadurch im Verhältnis zueinander definieren. Es entstehen plötzlich Dynamiken, die an Tanzformationen erinnern, in denen sich zahlreiche Tänzer:innen zueinander und gegeneinander bewegen.
Zwei Solitäre fallen aus den Rahmen: Eines lässt die ‚Figuren‘ in Bogenbewegungen wild durcheinander über die Holzplatte tanzen, und das andere macht in bewährter Manier die Verletzungen der Holzoberfläche sichtbar. Hier ist der Zustand der Oberfläche der Spiritus rector, der die Künstlerin in ihrer sensiblen Wahrnehmung Bilder sehen lässt, die andere nicht einmal erahnen. Die Oberflächenverletzungen oder die Konstellation von Astlöchern bzw. dunkleren Jahresringe erzählen ihre eigene nicht präzise zu definierende Geschichte.

Auch wenn Konzert für Rrose Sélavy für sich alleine stehen kann, und noch mehr beeindrucken würde, wenn der Raum um ein vielfaches größer wäre, und der Orchesterkörper entsprechend erweitert würde, so ergibt sich in der Dichte der Inszenierung der Installation in Verbindung mit den Wandarbeiten dennoch ein homogenes Bild – übrigens nicht anders als in Renate Hampkes Atelierwohnung, in der die Werke geschaffen wurden und nacheinander zueinandergesellt wurden.

Die Radikalisierung der Installation durch den Verzicht auf die Fingerwerke und der z. B. Verdreifachung des Orchestermitglieder kann aber – sollte es der Künstlerin vergönnt sein – an einem anderen Ort, in einem Kunstverein oder einem Museum jederzeit noch erfolgen.

Semjon H. N. Semjon, Dezember 2022

* Zahlreiche ortsspezifische Installationen hat Renate Hampke seit ihrer Mitgliedschaft in der Künstlerinnengruppe „Endmoräne“ geschaffen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten jedes Jahr künstlerische Interventionen in meist leerstehenden Gebäuden in Berlin und Brandenburg vornimmt. Auch ihre Einzelausstellung im „Gotischen Haus“ in Berlin-Spandau im Jahr 2020 überraschte mit ihrer unorthodoxen Art, in den Raum zu intervenieren.

Parallel zu dieser Ausstellung ist die »Intervention XXX-02« von Marlies von Soden im »KioskShop berlin (KSb)« zu sehen.

 

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