Das Leben – eingeschrieben, eingerieben
Die Bibliothek von Li Silberberg

Solo-Ausstellungsinstallation anläßlich der Ausstellung »Geschnitten und Gerieben …« vom 28. März – 25. April 2020

Das Leben – eingeschrieben, eingerieben
Die Bibliothek von Li Silberberg

Das Wesensmerkmal eines Buchs sind die zusammengebundenen Papiere, die zuvor als Druckbogen gefaltet, aufeinandergelegt und dann miteinander vernäht und geleimt werden, um im folgenden Schnitt die Freiheit der individuellen, nun zu blätternden Buchseiten zu erfahren.

Der angenähte Buchrücken hält alles zusammen und gibt dem neu Entstandenen auch mit Hilfe der Buchdeckels seine alltagstaugliche Stabilität.

Unbeschriebene Bücher sind zumeist Künstlerbücher, konkret Skizzenbücher, doch auch als Tagebücher und Ideenbücher bieten sie den Raum für nachschlagbares, weil handschriftlich festgehaltenes persönliches Erleben und Wissen.
Erst in dem Prozess des Beschreibens oder des Bezeichnens (oder natürlich seines durch den Buchdruck materialisierten Inhaltes) erhält das Buch seine Seele. Zuvor ist es ein Zeichen für diese potentielle Möglichkeit und kommt daher als industrielles, wohlfeiles Produkt in gut sortierten Künstlerbedarfsläden.

Li Silberberg arbeitet nun inzwischen seit 22 Jahren tagtäglich an einer Reihe von Künstlerbüchern, die ihre persönliche Bibliothek geworden sind.
Es gibt zwei Typen davon: das Buch als Ideensammlung, als Konvolut der täglich festgehaltenen Gedanken, als Ansammlung von Sätzen, die im Zeilenblock geschrieben, die datierten Tage auch visuell unterscheiden. Zwischendurch, gelegentlich – nicht auf jeder Seite – durchbricht den handgemachten Gedankenblock eine kleine abstrakt strukturelle, und doch auch zeichenhafte Zeichnung (sie nennt sie Lebensspiralen) seine fast rhythmische Präsenz.*

Diese täglichen Einträge sind die Vorbereitung für das Eigentliche, gehören aber unabdingbar zu dem ‚Großen‘, dem stolzen Werk ihrer Bibliothek, die inzwischen 181 Bände umfasst. Die konkret beschriebenen und bezeichneten Bücher zählen im gleichen Zeitraum inzwischen rund 40 Exemplare. Das Festhalten der Gedanken und Gefühle, das Einweben von Gedankenzeichnungen dazwischen lässt sich als Akt der inneren Versammlung verstehen, der im Nachfolgenden die zweite schöpferische Ebene erfährt: Das Einschreiben und Einreiben der Gedanken – und des Ist-Zustandes – mit den bloßen Händen, mal in ihrer reinsten Nacktheit, also in der Unmittelbarkeit von Fingerhaut und dem ungestrichenen Buchpapier, mal bekleidet mit einem Mantel aus Tusche, der sich abreibt auf der Oberfläche der Buchseite.
Li Silberberg streicht mit bloßen Händen die beiden Seiten des aufgeschlagenen Buches in horizontaler Ausrichtung. Dutzendfach, hundertfach, tausendfach. Das Einschreiben ihres Jetzt-Zustandes und die Erinnerung an Vergangenes erfolgt mit geschlossenen Augen, und sie sitzt dabei im Schneidersitz auf einem Jogakissen. Die Künstlerin betrachtet diesen langanhaltenden Schöpfungsakt als ihre tägliche Meditation, versenkt sich in sich selbst und hat stets den (Haut-)Kontakt zum Buch, dem aufzuladenden Träger ihres Wissens und ihrer Erfahrung. Ihr Schaffenszentrum hat auch den Charakter eines kleinen Meditationsraumes.

Die Zeit heilt die Wunden, so heißt es im Volksmund. Bei Li Silberberg geht es den umgekehrten Weg. Die Zeit des aktiven Beschreibens und Reibens zeitigt Wunden. Nicht an den Fingerkuppen, wie man meinen könnte. Sie sind trotz täglichem Reiben und Tuschebad sauber und heil, von fester Spannung und doch seismischer Zartheit. Es sind die Bücher, die ihre Wunden erhalten. Sie werden zerrieben, die Buchseiten horizontal zerschlissen und gespalten, geben Raum für das Beschreiben und Zerreiben der dahinterliegenden Seiten. Ein plastisches Gebilde entsteht mit Schründen und ihren zerriebenen hauchdünnen Kanten, und je nach innerem Zustand und Stadium des Tagewerks werden die nächsten Seiten aufgeschlagen, um wieder durch das Tage- oder Wochenwerk gefüllt zu werden mit der Energie, die das Leben vorgibt. Die Dicke der Bücher zeugen von den Intensität der zerriebenen Wochen, im Schnitt sind es sechs für die Transkription des Lebens in einem Band. Sein Volumen hat sich durch den Abrieb der einzelnen Seiten fast verdoppelt. Das sorgfältig hergestellte Industrieprodukt Skizzenbuch (s.o.) hält die Tagesetzungen aus. Der mit Tusche befleckte Buchrücken aus Leinen zeugt von der Kraft der Einschreibungen, der écriture automatique humaine, und seinen Unzulänglichkeiten, weil nicht eine Maschine diese beschreibt, sondern die Künstlerin Li Silberberg, die wie wir, in ihrer Profession zum Glück die Imperfektion eingeschlossen hat.
So entsteht über Monate, über Jahre – inzwischen zählen sie 22 – eine private Bibliothek, die uns vom Leben der Li Silberberg berichtet, ohne je das Konkrete entziffern zu lassen. Eine Ahnung davon lässt uns (mit uns) allein. Einer Sisyphosarbeit gleich ist sie die materialisierte Energie des Lebens, entstanden im Meditationsprozess in rund 40.000 Stunden.

Die öffentliche Bibliothek, die eines Tages diesem Konvolut als Bibliothek in der Bibliothek eine neue Heimat geben wird, darf sich glücklich schätzen, dieses Gesamtkunstwerk den Bibliotheksbesuchern und -nutzern in ihrem Alltag vorzustellen, als eine vom Leben erarbeitete Metapher für die Wissensaneignung und -vermittlung sowie ihrer -bewahrung. Als wirkmächtige Metapher der Seele des Hauses.

Semjon H. N. Semjon
März 2020

 

* Diese Gedankenskizzenbücher sind das Resultat ihrer ‚klassischen‘ Skizzenbücher aus den 70er- bis 90er-Jahren, die gefüllt sind mit hinreißenden Zeichnungen, die vom Geist eines abstrakten Strukturalismus geprägt sind. Behende und souverän in der Linienführung sind sie beseelt als ein Ganzes. Sie schwingen.
Das eine oder andere Skizzenbuch müsste unbedingt als Faksimile aufgelegt werden.

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