Stefan Thiel – Claims
23.1. – 28.2.2015
Die neue Werkserie rekurriert auf eine Gruppe von Papierschnitten, die Stefan Thiel 2006 mit dem Werk Zaun begonnen hatte: Ein aus großformatigem Papier in typischer Cut-out-Technik geschnittener Maschendrahtzaun lotete in der Reduktion des Maschengeflechts aus ineinander verschlauften Rauten die Grenzen der Tragfähigkeit des Papierbogens aus (vgl. Katalog Stefan Thiel, Cuts, S. 61, Hatje Cantz, 2012).
2014 nimmt der Künstler dieses Sujet nun erneut zum Anlass, weitere Papierschnitte zu schaffen, die perspektivische Überlagerungen von unterschiedlich großen Maschendrahtzäunen zum Thema haben. Die Virtuosität des Papierschnitts des Künstlers erreicht hier einen Höhepunkt, wird doch das Freischneiden des Binnen-raumes der filigranen Zaunmaschen durch die Überlagerung eines weiteren Maschendrahtgeflechts besonders kompliziert. Schon beim ersten Betrachten dieser Werke glaubt man nicht, dass es sich hier um ein von Hand beschnittenes Papier handelt. Ein ähnliches Staunen sowie Ungläubigkeit stellen sich ein wie bei den durchbrochenen Polyedern aus Elfenbein der Renaissance und des Barocks, die Zeugnis einer meisterhaften Schnitzkunst sind.
Der Ausstellungstitel Claims verweist auf das Thema des abgegrenzten Areals und bietet somit die formalen Parameter für seine Papierschneidetechnik von durch Zäune begrenzten Räume. Gleichzeitig verdeutlicht der Künstler bei der ebenfalls gezeigten und den Zaunbildern gegenübergestellten Werkserie der in Netzstrümpfe umhüllten Frauenbeine deren Volumen durch die formfolgende Dehnung der Strumpfmaschen. Die Gitterstruktur wird bei beiden Werkserien zur Begrenzung des Raums und öffnet diesen gleichzeitig durch ihre Durchlässigkeit. Was bei der einen Werkserie als männlich besitzmarkierend, technoid und kalt verstanden werden kann, wird bei der anderen Werkgruppe zu einer charmanten, subtil erotischen Umschreibung der weich modulierten Form und Schönheit des weiblichen Körpers.
Thiel kombiniert in einer Art Remix diese neuen Beispiele zweier Werkgruppen von autoreferentiellen Bildideen, die er schon früher untersucht hat, um sie in der neuen Ausstellung zugunsten einer erweiterten Begriffsklärung von Raum einander gegen-überzustellen bzw. miteinander zu verschränken. Dieses Muster beschreibt in einer Art Rasterfahndung den Raum bzw. den Körper, aber andererseits konstituiert er diesen auch und positioniert den Betrachter dazwischen. Beide ‚Räume’ sind seit jeher politisch und ihre Begrenzung zivilisatorische Chimären der Orientierung.
Thiels Gitterstrukturen sind dehnbar, bestehen aus Wellen, die sich gegenseitig bekämpfen oder in der Überlagerung wie in einer destruktiven Interferenz aufzu-lösen, zu oszillieren scheinen, was ihren willkürlichen, ephemeren Charakter entlarvt und somit ins Bild entlässt, für das Bild befreit.
Die Bedeutung von claim als Verb verweist auf die Haltung des Künstlers: Diese beiden Werkgruppen mit neuen Werkbeispielen zeigen einmal mehr, dass Stefan Thiel sich seines künstlerischen Terrains sicher ist, dieses sich als künstlerische Her-ausforderung selbst erschließt und absteckt. Er setzt sich selbst die Grenzen, die er künstlerisch-handwerklich bis zum Äußersten ausreizt. Claims bedeutet aber auch, dass er um seine Souveränität und Hoheit in diesem Medium weiß und sein Werk als eine künstlerische Behauptung begreift.
Semjon H. N. Semjon
Januar 2015