Stefan Thiel – Archiv/Werkstatt
18.3. – 23.4.2016

In seiner Kabinett-Ausstellung im Straßen-Salon der Galerie stellt Stefan Thiel zum ersten Mal die Bandbreite der verschiedenen Werkmedien vor, an denen er seit längerer Zeit arbeitet oder früher gearbeitet hat.

Der Künstler ist Ende der 90er Jahre durch sein Langzeit-Projekt der Umsetzung des bekannten literarischen Werkes Die120 Tage oder die Schule der Ausschweifung des Marquis de Sade (1740–1814) in die Blindenschrift bekannt geworden. Während der drei Jahre währenden Arbeit daran hat er rund 8.000 Blatt geschaffen und sie in einem Kompendium von 25 Buchbänden zusammengeführt. Eine radikale und zeitraubende Leistung sowie Haltung, die aufgrund der haptisch erfahrbaren Prägetranskription einem ausgeschlossenen Kreis von Menschen den Zugang zu diesem literarischen Werk hätte ermöglichen können, wäre sie nicht als eine Raum- und Zeitmetapher in skulpturaler Form gedacht gewesen.
Aus dieser Zeit stellen wir ein weiteres, nicht ganz so umfassendes Werk vor, das letzte, das sich noch im Besitz des Künstlers befindet: Die Übersetzung des binären Codes, der durch die zehn Finger beider Hände als Zahlzeichen dargestellt werden könnte, in Braille gesetzt. Eine Folge von 45 Blättern war 1996 entstanden, die aufgereiht als Tableau die gesetzmäßige Rhythmik des binären Codes auch visuell erfahrbar macht.

Das zeitlich folgende Medium der Papierschnitte, die nach wie vor einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt mit diversen Werkgruppen für den Künstler darstellt, hat seinen Ruf innerhalb der Kunstwelt begründet sowie einem breiten Publikum erschlossen. Stefan Thiels meisterhafte Papierschnitte, die z. B. förmlich das Bewegen von Ästen oder das Quirlen von Wasser aus dem Papier ‚herausatmen‘, sind schon ein Erlebnis. Auch das Papier bis zur äußersten Grenze seiner eigenen tektonischen, materialbedingten Tragfähigkeit wegzuschneiden, so dass nur ein zartes Zaungeflecht vor weißem Grund stehen bleibt und sich davon partiell leicht abhebt, ist ein Beispiel seiner handwerklich nicht nur soliden Technik der Schneidekunst, sondern auch der Autorität seines Blickes – denn alle Motive, bis auf die Filmstills, sind selbst fotografiert. Souverän führt uns der Künstler ein erst junges Werk vor, das den Oberkörper eines jungen Mannes abbildet, der von einem Netzshirt umspielt wird und in der Distanz die volle Plastizität seiner hart erarbeiteten Bauch- und Brustmuskelpartien freigibt. Je näher man dem Bild kommt, desto abstrakter wird dieses Spiel mit den hunderten von Löchern, die in ihrer Verkürzung das Körpervolumen erst schaffen: Eine sympathische formale Korrespondenz zu den erhabenen Punkten seines Braille-Werkes.
All diese Motive schlagen den Bogen zu den Anfängen seines künstlerischen Schaffens, als er in den 80er und 90er Jahren Student bei Dieter Appelt war. Die Fotografie hat Stefan Thiel Zeit seines künstlerischen Lebens begleitet, ist aber zu Unrecht selten in den Vordergrund gerückt worden.

 

Stefan Thiel führt uns in seiner Archiv/Werkstatt betitelten Einzelausstellung die Bandbreite seines fotografischen Oeuvres in kleinen Fine Art Prints vor, die mit ihrer intimen Größe einerseits den Charakter der Studie, zum anderen auch die Annäherung an das Motiv, die Situation der Bildsetzung vorführt. So manches Motiv ist uns bekannt, hat der Künstler dieses als Ausgangspunkt für seine Paper cuts genutzt: Die Mistel im Geäst, die kernigen Männer, die für sein Konvolut der 100 Berlin Based Men aus der Werkgruppe der Black Facebook als Grundlage dienen oder gar die erotischen Männerakte seiner Erotica-Serie, die im Kontext mit Möbelklassikern diese formal und provokant kontrastieren und inhaltlich neu aufladen. Das Wirren und Flirren der Netzstrumpflandschaften, von einer Dana getragen und als ab- und anschwellendes Abstraktum vom Künstler in Szene gesetzt, zeigt die Neugier, seine Lust am Entdecken und am Komponieren. Man wäre schon gerne manchmal ein unsichtbarer Gast in seinem Atelier, wenn der Künstler dem Aktmodell die Anweisungen gibt, seine Positionen einzunehmen oder aber auch dem Selbstdarstellungswunsch des Modells zu entsprechen und ihm Raum und Freiheit zu geben, sich zu produzieren, stets aber im Blick habend, das eine und besondere Foto dieser Session zu gewinnen. Der Künstler muss dem Modell schon ein großes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben, um ihm das Äußerste zu entlocken.
Die Schwarz-Weiß-Tonalität, gelegentlich mit leichter Tendenz ins Grünliche oder Sepia, betont das klassische Moment einer Schwarz-Weiß-Fotografie, auch wenn das Foto keine chemischer Abzug ist, sondern ein Pigmentdruck. Ein Faszinosum ist die Tatsache, dass manche Motive sowohl als reine Fotografie überzeugen, aber auch als spannender Papierschnitt funktionieren. Das ist natürlich abhängig von den Differenziertheit der Außenkontur des Objektes und seine Lichtdurchlässigkeit oder Reflexionsfähigkeit. Das faszinierende Bild von der Auslage eines Juweliers mit den vom Schmuck befreiten Dekolleté-/Halsbüsten kann nur als Fotografie funktionieren, sind seine Binnenstrukturen extrem flächiger Art. Stefan Thiels Blick in die Welt ist ein fotografischer.

Dass der Künstler sich nun seit einiger Zeit zudem mit der fotorealistischen Porträtmalerei beschäftigt, ist neu und belegt einmal mehr sein Interesse, in dem jeweiligen Medium eine eigene Handschrift und künstlerische Autonomie zu entwickeln. Das Feld der Malerei ist besetzt durch eine jahrtausendalte Tradition und seine Zeugnisse, die als Richtschnur bewusst oder unbewusst im Raum schwingt und zur Beurteilung herangezogen wird. Kann sich der Künstler dem schwerlastenden Kanon der Porträtmalerei stellen, bzw. sich in ihr mit einer eigenen malerischen Sprache positionieren?
Interessant hierbei ist, und das mag die Frage im Ansatz beantworten, dass er in dieser neuen Werkgruppe die Herkunft seiner Malerei nicht verleugnet, sondern durch die Farbwahl in Schwarzweiß-Abmischungen diese thematisiert und gezielt mit einem entrückenden diskreten Farbraum des Hintergrundes kontrastiert. So wie die Fotografie als Fundament seiner Papierschnitte dient, so ist die inzenierte Fotografie auch die Grundlage seiner neuen hyperrealistischen Malerei. Sie stellt sich sehr präsent vor und ist zugleich von einer großen kontemplativen Stille, einem In-sich-gesunken-Sein der dargestellten Protagonisten, obwohl der Blick des Modells dem Betrachter in dem hier gezeigten, noch farbnassen Porträt von Roy begegnet.

Stefan Thiel gelingt es, sich kontinuierlich in seinem künstlerischen Schaffen neue Werkgruppen zu erschließen und dort eine große handwerkliche Meisterschaft zu entwickeln, die seinem hohen Anspruch von technischer Perfektion und inhaltlicher Herausforderung und Relevanz gerecht wird. Kunst ist Haltung und Können. Diese Autorität besitzt Stefan Thiel ohne Zweifel. Wir dürfen gespannt sein, was noch kommen wird!

Semjon H. N. Semjon
Berlin im März 2016

 

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