Dave Grossmann –Tanz der Späne – Die Ordnung der Dinge
Gedanken zur Ausstellung SEMI COLLAPSE
12.12.2020 – 23.1.2021
Chaos ist ein fruchtbarer Nährboden für das Entstehen von Neuem. Den meisten Menschen hingegen ist es suspekt, weil es eigene Gewohnheiten, ein selbst erschaffenes Regelwerk, bedroht. Chaos ist aber nicht gleich Chaos: Es bedarf immer des Betrachterstandpunktes, vor allem aber der Offenheit und Neugier. Denn Chaos trägt in sich selbst die Richtkräfte für neue Ordnungen und ist auch – frei umschrieben – ein Universum nicht entschlüsselter Ordnung(en). Die angewandte Mathematik und mathematische Physik nähert sich genau diesem Sachverhalt – und ist noch nicht zur allumfassenden Verständnisformel vorgedrungen.
Wenn sich Dave Grossmann, Jahrgang 1989, intensiv mit dem für die Kunst bisher nicht besonders auffällig gewordenen Werkmaterial der OSB-Platte auseinandersetzt, liegt es unter anderem daran, dass hier augenscheinlich Chaos und Ordnung dicht beieinanderliegen, ein Sachverhalt, der ihn als neugierigen Künstler fasziniert. Abgesehen von der Schönheit des Werkstoffes Holz mit seinen spröden, aber auch sehr diffizilen Maserungen und haptischen Qualitäten, als ein Vertreter der uns umgebenden Welt, der Fauna und Flora, ist das Werkprodukt OSB ein von Menschen gemachtes Ding, ein kulturelles Artefakt.
Der Fertigstellung dieses Produktes selbst ist ein spannendes Unterfangen, erst 1963 von Armin Elmendorf in den USA entwickelt: OSB bedeutet Oriented Strand Board (also aus-gerichtete Späne-Platte). Im Vergleich zur Spanplatte, die in den 1930er Jahren von dem Deutschen Max Himmelheber erfunden wurde, zeichnet sich OSB durch die Erkennbarkeit der einzelnen Späne, die zwischen 1-2 mm stark und ca. 10-20 cm lang sind. Und hier geschieht auch für Dave Grossmann das Aufregende im Produktionsprozess, das sich im Erscheinungsbild der OSB materialisiert: In drei Lagen werden die groben leimgetränkten Späne richtungsversetzt auf das überdimensionierte Fließband gerüttelt/und geblasen, bevor sie zur Platte gepresst werden. Die Späne sind in ihrem ‚Fluss‘ gerichtet. Doch einzelne Späne stellen sich quer und ändern ihre Richtung, weil sie sich z. B. im dynamischen Prozess verkanten, und werden zum (zufälligen?) strukturellen und optischen Störfaktor.
Entgegen dem Produktionsprozess, in dem die theoretisch unendlich lange Platte zu transportfähigen Größen von über 3 m Länge gleich noch auf dem Förderband portioniert wird, gibt es im deutschen Handel nur beschränkte Größen bis zu maximal 250cm(?). Dies entspricht auch dem Maß der größten Arbeiten von Dave Grossmann.
Der Künstler sucht sich nicht die ‚besten‘ Platten aus, sondern lässt sich ein, auf das, was ihn an Spänekonstellationen erwartet. Ein visuelles und mentales Scannen der einzelnen Platte (z.B. in der zugeschnittenen Größe von 45 x 33 cm) ist die Grundlage für seine Entscheidungen, welche der unzähligen Späne er zu Clustern optisch herausarbeiten möchte. Die nicht relevanten Späne werden überspachtelt mit Gips und bilden als Fläche das Fundament für weitere Farbschichten. Sie korrespondieren als unregelmäßig geometrische Flächen zu den Formen der unbedeckten Späne, führen ihren dynamischen Raum in die Fläche und suggerieren den Character eines all over, also der Fortführung in die Unendlichkeit jenseits des materiellen Bildraumes. Ein Prozess des kontinuierlichen Dialogs entsteht im Schaffensprozess. Die einmal freigelegten Späne bekommen eine optische Tiefe durch das Abdunkeln bestimmter Partien, so dass ein Vorne und Hinten suggeriert wird, also Schattenbereiche entstehen. Jede Entscheidung für eine farbigen Fläche erfordert eine Antwort mit einer weiteren Farbfläche, bis das Bild stimmt, eine Balance gefunden ist. Sie ist zugleich energetisch durch die sich dynamisch verklammernden Flächen, die teilweise sensible Farbverläufe haben, und damit innerhalb einer Fläche eine perspektivische Ausrichtung suggerieren. Im Zusammenspiel der Farbräume (zumeist in Blau- und Grau-, aber auch in schwarz- und Rosatönen) lässt sich schwer definieren, was vorne und hinten liegt. Ein Verwirrspiel par excellence. Die herausgestellten einzelnen Holzspäne folgen ihrer eigenen Logik aus dem Herstellungsprozess der OSB-Platte. Zusätzlich dynamisiert und scheinbar tiefengestaffelt durch die sensibel gehauchten Schattenzonen, ergeben sie ein helles Feuerwerk einer geballten Kraft, eines sich Zusammenstauchens oder Expandierens. Der Schwebezustand, das Eingefrorenseins des Spänetanzes suggeriert Energie und Kontemplation zugleich. SEMI COLLAPSE.
Der Tanz zieht den Blick in das Bild hinein, auf dass das Auge in einem ständigen Hin und Her die haptischen Qualitäten der einzelnen Späne, sowie das begleitende, konterkarierende, aber auch einbettende und bildstabilisierende Moment der Lackoberflächen abtastet, sich dann ausruht auf der nackten Wandfläche, um erneut in das Bildwerk einzutauchen.
Dave Grossmanns souveräne Bildfindung ist eine autonome Antwort auf seinen Erfahrungsschatz, den er als Gründer, Denker, Herausgeber und Gestalter seines herausragend gestalteten Magazins KWER in 4 Ausgaben (intelligent und sinnlich zugleich!) erworben und verfeinert hat.* Die Grundsäulen seines künstlerischen Schaffens sind sein Studium von 2010 -2010 der Visuellen Gestaltung an der FH Potsdam , aber auch sein ‚erstes Leben‘ als urban-zeitgenössischer Tänzer, der früh in seiner Jugend schon lernte, den Raum dynamisch und kompositionell zu durchmessen und spannende Bewegungsfiguren zu kreieren. Auch hier gab es schon das Wechselspiel zwischen extrovertierter Energie und introvertierter Kontemplation. SEMI COLLAPSE kann als ästhetische Zwischensumme seiner noch jungen (Lebens-)Erfahrung gelesen werden. Ein überzeugender materialisierter Schwebezustand, der die Energie richtet und bündelt, nach vorne weist, ohne das Gestern zu verleugnen.
Semjon H. N. Semjon
Dezember 2020
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. (Friedrich Nietzsche)
* Die ersten 4 Ausgaben waren ein Gemeinschaftswerk von Dave Grossmann und Hartmut Friedrich.