Nataly Hocke – 4 1/2 Stunden Ozean
17.06.2017 – 29.07.2017

Es gab einmal mal eine Zeit, da dauerte die Schiffsfahrt von Hamburg nach New York 4 1/2 Tage. Das Flugzeug war noch nicht erfunden. Es war eine lange oder kurze Reise in eine andere Welt, subjektiv jeweils von den Reisenden unterschiedlich empfunden. Die Reise als zahlungskräftiger Passagier hatte eine andere Qualität als die vieler Mitreisender. Nataly Hocke hatte vor einigen Jahren bei der Recherche im Archiv des Museum Villa Rot, nahe Ulm, freie Hand, sich für ihre künstlerische Intervention im Museum aus der Sammlung zu bedienen und diese aus ihrer Sicht zu interpretieren und mit eigenen Werken dialogisch zu ergänzen. Dabei ist sie auf ein Plakat gestoßen mit eben diesem Titel, der noch zeitbedingt typografisch anders gefasst war: 4 1/2 Tage Ocean. Der Werbeslogan aus den Zwanziger Jahren ließ die Künstlerin nicht mehr los. Das kreative Schaffen ist geprägt von der Kreation und von der Reflektion. Vor einiger Zeit begann Nataly Hocke systematisch alle ihre bisher geschaffenen Werke, so sie nicht veräußert waren, in ihrem Atelier zu versammeln und eine gedanklich, aber auch emotionale Reise in ihr bisheriges Schaffen zu unternehmen. Da passt die Erinnerung an den Fund des Ocean-Plakates vortrefflich, auch wenn der Titel die große Passage nach Amerika – in die Neue Welt – zum Inhalt hat und hier natürlich eine neue Aufladung erhält. Das Überschauen-Wollen des eigenen Werkes hat zweifelsohne mit einer Selbstvergewisserung zu tun, die den künstlerischen Standpunkt – oder auch Standort, wenn man die Metapher des Reisens verwendet – greifen und fassen soll. Das aber heißt, das bisher Geschaffene in einem womöglich neuen Licht, mindestens aber aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und innere oder äußere (z. B. formaltechnische) Zusammenhänge zu eruieren und Diskrepanzen, Verwandtschaften oder gar Entwicklungen erneut zu begreifen. Wir wissen, es gibt verschiedenste Ansätze und Konzepte der Kunstproduktion: Die einen stellen sich eine gedankliche und übergeordnete Struktur zusammen und erforschen formaltechnische Entwicklungsmöglichkeiten, die z. B. das Thema Form und Farbe umkreisen und auf diesem Weg als Resultat eine Bandbereite von Kunstwerken generieren, bis das Thema ‚abgearbeitet‘ ist. Andere wiederum können nur auf der Basis der eigenen Lebenserfahrung Werke schaffen, die formaltechnisch enorm variieren, aber dennoch eine gemeinsame Sprache haben, die ebenso zu einer Künstlerhandschrift, zum Erkennungszeichen wird. Zu dieser Gruppe gehören auch die KünstlerInnen, die sich von Fundstücken u. a. inspirieren lassen. Nataly Hocke ist eine Geschichtenerzählerin, die ohne Identifikationspersonal auskommt und durch ihre Zusammenfügungen von vom Leben abgearbeiteten oder von der Künstlerin bearbeiteten Fundstücken assoziative, man könnte auch sagen, surreale Geschichtenexzerpte konstruiert. Ob es der gefällte Birnbaum aus dem Garten der Eltern ist, dessen Reststücke sie sich als Baumscheiben sichert und zu einem neuen Leben erwachen lässt, oder der gerupfte Federball, der so manche Feder hat lassen müssen in seinen vielen Spieleinsätzen, der sich plötzlich wiederfindet in einem selbstgezimmerten Schaukasten. Oder die mit rotem Zuckerguss überzogenen Smarties, zu den sich Muschelreste, rotes Nähgarn und ein zartrosafarbener Plastikeislöffel gesellen, die alle möglichen Assoziationen wachrufen. Wenn dann eine Fundtapete mit ebenfalls rotem Muster alles optisch zusammenfasst und die Glasscheibe davor von rotem Farbnebel besprüht ist, dann gibt es kein Halten mehr bei den Gadankenkapriolen (»Rote Wollke« aus diesem Jahr). Die Geschichten, die erzählt sein könnten, lassen sich aber nicht exakt fassen. Sie ist ohnehin unserer eigenen Fantasie entsprungen. Die Inszenierung der Requisiten, des ‚Bildpersonals‘ zueinander ist kein willkürlicher Akt selbstherrlicher Vergessenheit, sondern von Nataly Hocke in einem zeitaufwändigen Produktionsprozess präzise zusammengeführt. Ein noch so schiefer Rahmen ist auf den Punkt ponderiert und ergibt mit dem inneren Objekt oder einer Fotografie ein in sich stimmiges Werk, das neben der Einladung, unserer Fantasie freien Lauf zu gewähren, sich selbst genug sein kann. Wenn Nataly Hocke in 4 1/2 Tage Ozean ein raumdominierendes Fundstück, ein Klavier, auf verschiedenen Hölzern aufbaut und eine Kunstpalme dazu drapiert, verweist sie insbesondere auf die Thematik der Reise und den Sehnsuchtsort als Möglichkeit der Horizonterweiterung, die die Rück- und Vorschau auf das (künstlerische) Leben einschließen könnte: Das Klavier wurde einst in Chicago hergestellt und hat eine lange Reise unternommen, um nun für eine kurze Zeit in der Galerie unter neuem Namen »Palmenklavier« zu reüssieren und eine inhaltliche Aufladung, eine neue Identität zu erfahren. Wenn die äußere Situation günstig ist, wird Palmenklavier seinen endgültigen Standort in einer Kunstsammlung finden und kann vielleicht dadurch bedingt, gar eine Reise zu seinem Ursprungsort erfahren. Die Versammlung nach innen, die Schau zurück und die Projektion auf das Zukünftige werden künstlerische Ergebnisse zeitigen, die zu zeigen Nataly Hocke mit »4 1/2 Tage Ozean« in ihrer Heimatgalerie beginnt. Semjon H. N. Semjon, Mai 2017

 

 

 

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