Gil Shachar, Austellungansicht von Lunapark Transylvania @ Semjon Contemporary, 2020; Foto: Jürgen Baumann
2018 – dead flat
Gil Shachar – Dead Flat24.4. – 26.5.2018 In seiner aktuellen Ausstellung Dead Flat zeigt uns Gil Shachar zwei phänotypisch vollkommen unterschiedliche Werkgruppen, die jedoch auf dem gleichen Herstellungsprinzip der Abformung eines realen 'Objektes' basieren. Zum...
2016 – Skulptur
Gil Shachar – Lunapark Transylvania
22. August – 10. Oktober 2020
Der Titel weist schon in eine mögliche assoziative Richtung, die zu denken hier nicht uner- wünscht ist: Der Begriff Lunapark steht wohl für jeden für einen Amusement- und Them- enpark, wie er heute z.B. Disneyland darstellt. In Kombination mit der Ergänzung Transyl- vania kommen gleich Gedanken auf zu Graf Dracula aus Transilvanien, dem ehemaligen Siebenbürgen, heute in Rumänien gelegen. Der irische Dichter Bram Stoker hatte 1897 der historischen Person Graf Dracul (dracul in Rumänisch für Teufel) des 15. Jahrhunderts als Vampir ein fantasievolles Denkmal gesetzt, das ihn zum berühmtesten Vertreter ebenjenen Landstrichs, auch die Wallachei genannt, machte. Interessant ist, dass der Lunapark – das war dem Künstler bisher nicht bewusst – seinen Ursprung ausgerechnet in Berlin hatte. Back to the roots!
Von 1904-1919 war der Lunapark den Berlinern und den Berlin-Besuchern ein beliebtes Ziel für das Divertissement mit bis zu 16.000 Gastronomiesitzplätzen. Die Zahl der Besucher hatte bereits 1910 die 1. Million erreicht. 1934 wurde der Lunapark auf Anordnung des Nazi-Regimes geschlossen und ein Jahr später der ganze Komplex am Halensee abgerissen, um u.a. Raum für die großen Straßen zum Olympiastadion zu geben.
Zur Belustigung in Hochzeiten des Lunaparks waren auch eine gigantischen Wasserrutsche aufgebaut worden. Die erste Rolltreppe soll dort weltweit installiert worden sein. Ebenso waren auch die von Jahrmärkten und Zoologischen Gärten zu dieser Zeit noch bekannten und publikumswirksamen Völkerschauen mit den für den Mitteleuropäer bisher eher fremden und exotisch anmutenden Vertretern von anderen Völkern präsent. Typisch war auch zu jener Zeit noch das für unsere Zeit ebenso unwürdige und diskriminierende Zurschau-Stellen von Menschen, die jenseits der gewohnten Norm durch Klein- oder Riesenwuchs, Totalkörperbehaarung oder als Siamesische Zwillinge auffielen.
Wenn man Gil Shachars Werk bereits kennt, verwundert es nicht, dass er mit seinen lebens- nahen Büstenskulpturen sich gerne von dieser sehr speziellen Welt inspirieren lässt. Der Künstler als Forscher und Interpret, der Künstler – notwendig neugierig –, um für sich und letztlich für uns stellvertretend, die Welt zu begreifen und zu deuten.
Dass ihm, der in seinem realistischen Büstenporträt, in der entstehenden Kunstfigur, ein neues Leben, eine neue Seele einhaucht, dass ihm die Anomalie der totalen Körper- und Gesichtsbehaarung fasziniert, wundert nicht: Gil Shachar ist ein Meister der Kopfbehaarung. Die Haare der Augenbrauen und des Schädels werden minutiös ‚aufgemalt‘, wobei das Farbmaterial die Darstellung des einzelnen Haares plastisch auch leicht hervorheben lässt, weil es aufliegt. Die zentrale – bisher titellose Hauptfigur von Lunapark Transylvania zeichnet sich durch die totale Gesichtsbehaarung aus. Die Assoziation eines tierisch transmutierten Menschen (Werwolf?) tut sich auf, auch wenn ihn unsere eigenen vertrauten Gesichtszüge definieren. Die Bemalung des Gesichtshaares muss für Gil Shachar ein Fest gewesen sein, weiß ich doch aus Gesprächen von ihm, dass das Aufmalen der Haare für ihn ein meditativer Akt ist. Unzählige Stunden verbringt er, um die immer extrem kurzen Haare vor seinen Augen wachsen zu lassen. Die Gleichmäßigkeit des synchronen Haarwuchses, das Um- fließen und Umschmiegen des Schädels mit seinen leichten Richtungsänderungen durch die natürlich erscheinenden Haarwirbel, der Nullpunkt an der Fontanelle, von wo sich die Wuchsrichtung des Haares nach allen Seiten ausrichtet, das muss für den Künstler wie eine Musikkomposition sein, bei der sich alles zusammenfügt, wenn das letzte Haar aufgemalt ist. Eine unbehaarte Warze an der seitlichen Kalotte bei seiner aktuell geschaffenen Büstenskulptur bringt eine zusätzlich Spannung rein.
Wie aber herausfordernd muss es sein, wenn er – bisher atypisch – die Behaarung auf die Gesichtsfläche aufbringt. Die glatte unbehaarte Haut ist nur noch das Übergangsfeld zu den geschlossenen Augen, bzw. hier sind es deren Augenlieder, des Mundes, sowie der Ohren. Wie entscheidet der Künstler, wo er genau bei der Behaarung aufhört? Denn zwei Haare zu viel an der falschen Stelle, könnten den emotionalen Ausdruck der Kunstperson stark verändern.
Wie bei allen bisherigen Köpfen und Büstenporträts sind die Augen der Protagonisten geschlossen. Es ist dem Umstand geschuldet, dass man bei einem Lebenden verständlicherweise nicht die geöffneten Augen abformen kann. Aus der Not ist eine Tugend geworden, denn die Skulpturen gewinnen eine ganz eigene Gil-Shachar-Aura, nämlich die des Blickes nach Innen in die Welt hinaus. Dieser Umstand macht die neue gesichtsbehaarte Figur menschlich, lässt sich mit ihr uns verbinden und verbünden, macht sie verletzlich. Die Physiognomie changiert zwischen einer leichten Traurigkeit, Selbstversunkenheit und großen Sensibilität, aber auch innerer Achtsamkeit. Die Weichheit ihres Ausdrucks wird u.a. definiert durch genau jenen Korridor des unbehaarten Gesichtsfeldes, das den Mund plastisch weich und sinnlich definiert. Und durch die nackten Ohren.
Die uns allen eigene Lust und moralische Qual am Voyeurismus wird durch die geschlos- senen Augen der Figur gedämpft. Wir werden regelrecht eingeladen, uns dem Objekt der Neugier unerkannt zu nähern. Unser Schauer ist ein stiller und diskreter. Im Lunapark oder auf den ehemaligen Jahrmärkten (der menschlichen ‚Ausstellungsobjekten‘), ist die Zurschaustellung von ‚lebenden Attraktionen‘ eine ungleich brutale. Erst die anonymisierende Masse der Gaffer bildet einen Schutzraum und lässt die Grenzen des Anstands und des uns allen innwohnenden Instinktes des ‚gesunden Menschenverstandes‘, für eine Distanz fallen.
In Kombination mit den reliefartigen, stark farbigen kreisrunden großen Wandskulpturen, Abformungen von zerknittertem Papier, wird das Thema Lunapark noch einmal deutlich. Das Plakative der Werbetafeln, das schrill farbige des Schaustellermaschinenparks wie Karussells und Rutschen, etc. finden in den Wandskulpturen einen abstrakten Widerhall. Manche von ihnen könnten z. B. gar erinnern an ein Emoji von, einem Zeichen für Mickey Mouse.
Die Wandarbeit in seinem Wesen als Skulptur wird man erst aus der Nähe gewahr. Besonders dort wo in die großen (Mond-) Scheiben kleinere kreisrunde Formen freigeschnitten sind, die den Blick zur Ausstellungswand freigeben und die Erhebung der Knitterfalten besonders plastisch zum Vorschein bringen lässt und eine Stärke des Materials freigibt jenseits der des Papiers. Auch die Oberfläche der tausend Knicke schafft eine skulpturale Oberfläche, die zugleich die einfache Grundform durch die Vielzahl minimaler Schattenwürfe belebt.
Die Werke von Gil Shachar sind alle sich selbst vertretende Solitärskulpturen, doch ihr Arrangement zueinander evoziert Geschichten, die mit unserer eigenen Erfahrung abgeglichen werden. Bei Dead Flat, seiner letzten Einzelausstellung, ließ sich z.B. in Eli, die Büstenskulptur eines acht- bis elfjährigen Jungen, im Kontext der großen Wandarbeit einer Mondsichelform die Figur des kleinen Prinzen aus St. Exuperys Roman lesen.
So auch hier. Die Figur einer total behaarten Männerbüste im Kontext der großen kreisrunden aufgeschnittenen zumeist stark farbigen Wandscheiben (monochrom oder mehrfarbig) unterstreicht visuell den Ausstellungstitel, der bereits eine Leserichtung implizieren kann: Die abstrahierten Monde gemahnen an die Nacht, jenem Zeitraum, der dem Werwolf und Graf Dracula erst die Aktionsfreiheit schenkt.
Gil Shachar vermag es mit seinen Werken uns in den Bann zu ziehen, ob es die Büstenskulpturen oder auch die nicht figurativen, eher abstrakten Wandskulpturen sind. Bei beiden Werkgruppen überkommt uns eine Ungläubigkeit. Bei den Büstenskulpturen überwinden wir unsere Scham und sind fasziniert von der vermeintlich naturgetreuen Wiedergabe des menschlichen Antlitzes. Allein die Tatsache, wie der Künstler das Kopfhaar erschafft, kann uns begreifen lassen, dass seine spezielle Maltechnik (mit Wachs und Pigment) eines jeden aufgemalten einzelnen Haares eigentlich das Zeichen für ein Haar ist, was er da schafft. Der Korpus wird zur Leinwand.
Es ist das Vexierspiel zwischen Realität und Illusion, das den Künstler interessiert und es auch vortrefflich umsetzt. Auch die Faszination, dass Gil Shachar ein zerknülltes und wieder in Fläche gestrichenes Papier als Skulptur abformen kann, lässt uns staunen, ist das Papier doch konnotiert mit absoluter Fragilität, und dann noch das zerknitterte. Statt Bronze nutzt der Künstler Epoxidharz. Es macht es leichter und im Fertigungsprozess ist er nicht auf eine Gießerei angewiesen und kann es autonom zu jeder Zeit im Atelier fertigen.
Das Werk von Gil Shachar passt punktgenau in unsere Zeit, denn es arbeitet mit der Epiphanie der menschlichen Figur oder des Dinges. Für den durch instagram und facebook gegebenenfalls simplifizierten schnellen look ist das Werk in seiner Essenz (nicht unbedingt falsch) zu begreifen. Derjenige, der sich aber einlässt, das Werk in persönlichen Augenschein zu nehmen, kann die Dimension dahinter begreifen: Es repräsentiert den Menschen und das Ding, und hat doch eine eigene Seele, die Shachar’sche Seele, erhalten.
Semjon H. N. Semjon
Berlin im Juni 2020